Weiterrennen oder Innehalten?

Wie ich versuche, mit Müßiggang ein Zeichen zu setzen

Wie schön: Endlich beginnt der Sommer mit Sonne & Wärme. In unserer Nachbarschaft beobachte ich:
 Männer, die den Rasenmäher anschmeißen und ihre Autos waschen. Wozu dient das nun wieder? Warum nicht mal in den Garten gehen oder in den Wald spazieren, um den Frühlingsanfang zu genießen. Ich setze ein Zeichen und tu genau dies. Aber warum eigentlich benötigt das schon eine besonderen Entschluss?

Hier ist die passende Podcast-Folge abrufbar und abonnierbar.

Ich beschließe also, mal ein paar Gedanken zum Innehalten aufzuschreiben. Leider komme aber gar nicht dazu. Das ist nämlich der alltägliche Wahnsinn des… Alltags. Zeitdruck, Zeitknappheit, Zeitarmut, Zeitmangel, Zeitdefizit. Ich bin total zugeplant

Wenn ich mich umschaue, stelle ich tröstlich fest, dass ich nicht der einzige bin. Prüfe einmal, wie viel Zeit du täglich aufwenden musst, um deine Aktivitäten einigermaßen elegant, wenn nicht gar „optimal“ zu organisieren. Jetzt weißt du, was ich meine.

Warum ist es immer die Zeit, die fehlt? Die Zeit ist da, wie sie ist, sagt die Physik, wenn auch eine relative Größe. Physikalisch gesehen ist Zeit ein Pararmeter zur Abfolge der Ereignisse. Da wird nichts weniger.

Stattdessen wird etwas anderes mehr: meine Vorhaben, die Aufgaben, meine Pflichten, vielleicht auch die Ideen. Wir leben in einer beschleunigten Welt, die ihre Beschleunigung aus der Logik des Kapitalismus zieht:
Um heute zu investieren, um Geld zu verdienen, muss ich mir mit einem Kredit quasi Geld aus der Zukunft leihen. Morgen muss ich dies mit Zins zurückzahlen, muss also morgen mehr arbeiten. Dafür braucht es mehr wieder Investion und Kredit. Ein Teufelskreis, der auch dazu führt, dass Arbeit immer effizienter werden muss – so sehr, dass am Ende jede Arbeitskraft bis auf den letzten Tropfen ausgequetscht wird. Und so fühlt man sich dann auch. Ausgequetscht.

Wir reden von einer beschleunigten Gesellschaft & Turbokapitalismus. Wie macht sich diese Beschleunigung für mich im Alltag bemerkbar? Eigentlich verwende ich doch nicht mehr Zeit für Arbeit als zum Beispiel die Generation meiner Eltern oder sogar Großeltern. Ich will mich nicht beklagen, wenn ich an Zeiten der aufstrebenden Industrialisierung denke, in der die Menschen 16 Stunden pro Tag an 6 Tagen pro Woche gearbeitet haben. Ebenso wenn ich überlege, wie es Leuten gehen muss, die einen eigenen Bauernhof bewirtschaften.

Meine Zeitnot steht sicherlich mit Familienalltag, Beruf und Haushalt in Verbindung. Meine Zeitnot hängt aber auch mit der riesigen Menge an Freizeitangeboten und medialen Angeboten und Unterhaltungsangeboten und Ablenkungsangeboten zusammen. Sie sind zugleich Ergebnis und Ausdruck unseres Wohlstands, und mit Blick auf die damit zusammenhängenden Branchen auch deren Motor.

Wie der Soziologe Hartmut Rosa es formulieren würde, haben wir uns alle kulturelle Genüsse und Ereignisse verfügbar gemacht. In meinem Alltag erkenne ich es daran, dass ich mich permanent mit von mir ausgesuchter Musik berieseln lassen kann, überall die tollsten Kinofilme schauen kann, mit praktisch allen Menschen, die ich kenne, jederzeit quer über den Erdball mit Bild und Ton in Kontakt treten kann; ich muss nicht selbst einkaufen oder für mich kochen, das kann ich alles bestellen.

Meine Kinder müssen nicht darauf warten, ein sportliches oder künstlerisches Freizeitangebot nutzen zu können – es ist einfach da, verfügbar. Diese Aufzählung lässt sich praktisch endlos fortsetzen. Sollte ich dem Freizeitstress meiner Familie am Ende dankbar sein, dass ich meine Zeit nicht mit Ausweitung meine Arbeit zubringe (auch wenn mir dies inhaltlich an vielen Stellen große Freude macht)?

Das was nun immer enger wird, ist Raum und Zeit, dieses wirklich zu genießen. Was immer enger wird, sind die Spielräume, sich mit Freund*innen zu verabreden, um dies zu teilen oder einfach zu chillen und zu reden und zuzuhören. Was mir im Alltag fehlt, ist der Raum, für mich beiseite zu treten, die Pause-Taste zu drücken und zu reflektieren, was mir dies alles schenkt – und zu welchem Preis.

Wo hast du den Raum, dir die Frage zu stellen, wie du dich dir selbst wieder in Kontakt bringst ich dir selbst verfügbar machst. Was machst du stattdessen? Du klickst dich hier durch’s Internet. Du hörst dir meine Gedanken an. Wenn dich diese Gedanken ansprechen, dann nimm dir doch ein paar Minuten Zeit, diese Frage für dich zu reflektieren: Wo kann ich heute innehalten?

Wir leben in einer Zeit und Kultur des Überbietens und Beschleunigens in praktisch allen Lebensbereichen. Wenn du dir das Geschehen in den Social-Media anschaust, bekommst du jeden Tag Beispiele, wie perfekt, aber auch scheinbar beiläufig die Postings und Reels dort dargeboten werden. Es ist ein ständiger Kampf um Aufmerksamkeit. Und entweder kämpfst du mit um die Aufmerksamkeit der Welt da draußen – oder du müsstest vielleicht kämpfen, und deine eigene Aufmerksamkeit in diesem blinkenden und klingendeln Angebot zu fokussieren.

Stell dir vor, wie es wäre, wenn jemand zum Beispiel auf Instagram unter all den kurzen und oft wirklich tollen Videoschnipseln mal ca. 5 Minuten lang diese Gedanken zum Innehalten dort präsentieren würde? Du kannst daran ablesen, wie schwer es ist, ein Zeichen zu setzen gegen die Beschleunigung, und Werbung zu machen für Innehalten.

Kannst du dich erinnern, wann du dich das letzte Mal gelangweilt hast, so sehr gelangweilt, dass es praktisch weh tat? Und kannst du dich auch erinnern, welche fantastischen Ideen daraus häufig (und sicher nicht immer) entstanden sind, welche Kreativität du plötzlich für dich entdeckt hast? Hartmut Rosa würde es vielleicht so ausdrücken: Du hast Kontakt mit dem Unverfügbaren gemacht.

Vielleicht kann man das so erklären: Aus dem wachen Erleben im Moment, ohne Plan und Absicht, kannst du einsteigen in ein Hier-und-Jetzt. Spüre deine Sinne, vergewissere dich deiner vollen Achtsamkeit. Und wenn du aus dieser Startposition ins Handeln, ins aktive Gestalten gehst, kann daraus ein Flow werden, vielleicht eine Art von kreativer Trance.

Aber da dies unverfügbar ist, kannst du zwar die Bedingungen für ein solches Erleben erhöhen, dieses aber nicht mit Absicht erzeugen. Nebenbei bemerkt: Falls dich die Bedingungen für ein solches Erleben besonders interessieren, solltest du dir mal unsere Ideen zur künstlerisch systemischen Therapie und Supervision anschauen. Jetzt sollte man aber nicht gleich wieder in die „Verfügbarkeitsfalle“ tappen, und quasi nur als Methode innehalten mit dem Ziel, dadurch noch kreativer und produktiver zu werden. Risiko.

Vielleicht lieber etwas Muße als Muse? Bei Wikipedia lese ich zum Müßiggang: „untätig sein, nichts tun, träge sein“; damit ist konkret gemeint: „das entspannte und von Pflichten freie Ausleben, nicht die Erholung von besonderen Stresssituationen oder körperlichen Belastungen. Er geht z.B. mit geistigen Genüssen oder leichten vergnüglichen Tätigkeiten einher, kann jedoch auch das reine Nichtstun bedeuten“ (Zitat Ende).

Das klingt doch toll: Ich tu einfach nichts und bekomme daraus sogar viel. Ich könnte einfach da sitzen und warten, bis etwas passiert. Ich könnte spazieren gehen und schauen, was mir begegnet. Ich könnte in die Stadt gehen, ohne jemanden treffen oder etwas besorgen zu müssen. Ich könnte zuhause bleiben, im Bett liegen und mitten am Tag ein gutes Buch lesen. Ich mache mich frei von Tempo und Noch-Müssen und Mehr-Wollen.

Dass das gesamtgesellschaftlich als schädlich angesehen wird, kann man leicht daran ablesen, dass Faulheit im christlichen Glauben als die letzte der Todsünden angesehen wird. Der Turbokapitalismus mag das so denken, ich möchte mich hierzu aber einem systemischen Klassiker orientieren, frei nach Gianfranco Cecchin: Sei respektlos gegenüber Regeln und Tabus, aber habe Respekt vor dem Menschen! Also: Respect yourself und lass dich von dem Krempel nicht ablenken.

Pflege den Müßiggang, so dass es jede/r sehen kann! Setze ein Zeichen und komme in Kontakt mit deiner Langeweile! Werde offen für unverfügbare Flow-Momente – vor allem jene ganz besonderen, die du niemals planen kannst.

Ich mach das – ganz bestimmt – aber ich muss erst noch die Zeit dafür finden.

Inspirierende Litaratur

Hartmut Rosa:
Unverfügbarkeit
Suhrkamp 2020

Tom Hodgkinson:
Anleitung zum Müßiggang
Inselverlag 2013