Schule als kreatives System – systemisch betrachtet

​Schule als Ort von Bewahren und Entwicklung

Unser Schulsystem hat eine im Grund sehr konservative Funktion: Sie soll Bildung vermitteln. Konservativ ist dies deshalb, weil Bildung auch die Sozialisation junger Menschen in eine bestehende Gesellschaft und Kultur bedeutet. Sie wird im Schulkontext nicht vorrangig als veränderlich betrachtet. Zunächst geht es also um das Anliegen, mit der Bildung etwas zu bewahren.

Dieses Anliegen wird im Schulsystems insgesamt und von vielen Schulen so weit verinnerlicht, dass sie selbst ein konservatives System bilden: Das Bewahren ist eine etablierte Ressource, sodass es sich mit Veränderung schwer tut. Bewusste oder beiläufige Veränderungsprozesse können innerhalb eines solchen Systems sehr lange dauern. Wer einmal versucht hat, eine nachhaltige Veränderung an seiner Schule über sein Klassenzimmer hinaus umzusetzen, hat Geduld lernen müssen.

Der Wert der Ressource Bewahren soll nicht unterschätzt werden, wie die gedankliche Reise in die Gegenrichtung zeigen kann: Ein Schulsystem oder eine einzelne Schule, die sich mit starkem Veränderungswillen regelmäßig nach wenigen Jahren komplett neu erfindet, erzeugt zumindest andere Bildungsprozesse als die bisher intendierten. Dass auch die Auffassung von Bildung sich nicht radikal, sondern kontinuierlich entwickelt, kann auch vor allzu radikalen Veränderungen schützen, die Schülerinnen und Schüler in einer sensiblen Lebensphase zu Teilnehmern umfassender Bildungsexperimente werden ließen.

Für die Schülerinnen und Schüler innerhalb des Schulsystems ist Veränderung aber ständiges Oberthema: Sie besuchen ihre Schule, um fachliche Inhalte hinzuzulernen, um sich persönlich zu entwickeln, sich zu verändern. Eine solche dynamische Auffassung der Schülerschaft als zentraler Bestandteils des Schulsystems passt nicht selbstverständlich zu den Bewahrensqualitäten des Schulsystems.

​Kreative Prozesse als Brücke vom Bewahren zur Innovation

Wie lassen sich Ansprüche an Bewahren und Veränderung bzw. Veränderbarkeit miteinander verbinden? Die paradoxe Beziehung lässt sich auflösen durch eine Würdigung und Wertschätzung der gewachsenen und bestehenden Ressourcen und gleichzeitige zielorientierte Gestaltung zukünftiger Ressourcen. Eine solche Auffassung von Innovation setzt Kreativität voraus, Kreativität trägt die Möglichkeit von Neuigkeit in etablierten Kontexten.

Kreativität beschreibt den Prozess, mit dem bislang nicht bekannte Ideen oder Lösungsansätze für eine bestimmte Fragestellung entwickelt werden. Eine kreative Leistung (sei es Produkt oder Idee) lässt sich kennzeichnen durch:

  • evidenter praktischer Nutzen oder Bestandteil einer Problemlösung
  • Neuigkeitswert im jeweiligen Kontext (zumindest einzelne Elemente)
  • Realitätsangepasstheit und Umsetzbarkeit (mehr als nur eine fantastische Erfindung)
  • ästhetische Ausarbeitung (etwa durch geringere Komplexität bzw. Vereinfachung bisheriger Wege)

Diese Auffassung von Kreativität bezieht sich auf eine konkrete Zielstellung und nicht auf die Erzeugung eines künstlerischen Werkes. Diese Kreativität muss nicht ein Zufallsprodukt oder das Ergebnis eine Geistesblitzes sein, sondern lässt sich aktiv unterstützen: Sie gelingt vor allem in Situationen, in denen eine klare Fragestellung oder Problemformulierung mit einer spielerischen Geisteshaltung bearbeitet wird. Diese spielerische Haltung zeichnet sich dadurch aus, dass eingeübte Denkmuster verlassen oder überschritten werden können und dürfen. Sie begründen die gebräuchlichen Spielregeln für kreatives Arbeiten:

  • Spielerische Atmosphäre schaffen!
  • Alles ist erlaubt!
  • Keine Kritik, keine Killerphrasen!
  • Gruppenvielfalt bzw. „Demokratie der Ideen“ nutzen!
  • Quantität geht vor Qualität! (Bewertung und Auswahl folgt erst später.)

Zu den individuellen Hinderungen an Kreativität zählen Passivität, mangelndes Selbstvertrauen, negative Konditionierung, Scheu vor Unvertrautem. In Gruppenprozessen können Kreativität erschwert oder verhindert werden durch den Griff nach der erstbesten Idee, eine vorschnelle Bewertung, Furcht vor Kritik, Furcht vor Misserfolg, aber auch durch eine Übermotivation der Gruppenmitglieder. Wie können in einer Schule eher die kreativitätsförderlichen als die kreativitätshinderlichen Bedingungen etabliert werden?

​Verankerung einer kreativitätsförderlichen Schulkultur

Betrachten wir die Schule als System: Ganz allgemein Systeme beziehen ihre Stabilität daraus, dass sie zuerst eine System-Umwelt-Grenze aufbauen und etablieren und diese dann auch unter wechselnden Umweltbedingungen aufrecht erhalten. Insofern ist jedes System konservativ, da es auch dieser Ebene betrachtet nichts anderes tut als sich selbst zu erhalten. Die innere Struktur eines solchen Systems differenziert sich letztendlich genau nach dieser Anforderung: auf wechselnde äußere Anforderungen und Bedingungen so zu reagieren, dass es sich selbst erhält und stabilisiert. Ein System, das starr immer dasselbe tut, immer genau dieselbe Interaktion generiert, kann dieses nicht leisten. Es würde Sinn und Stabilität verlieren und sich in Subsysteme auflösen – es sei denn, es wird mit großem Aufwand „von außen“ als starre Struktur unterstützt.

Die inneren und äußeren Anpassungsprozesse erfordern sehr stark die Fähigkeit zur Innovation. Innovation kann verstanden werden als Erfindung und Umsetzung von neuen Ideen oder Generierung und Implementation neuer Abläufe. Kreativität kann hier ein wesentlicher Motor sein, um das Bekannte in Frage zu stellen und neue Ideen zu generieren.

Um Kreativität an einer Schule für Veränderungsprozesse dauerhaft nutzbar zu machen (d.h. eine Zuschreibung „kreatives System“ als überdauernde Eigenschaft zu rechtfertigen), bedarf es zweierlei Ansätze:

  • methodische Zugänge zur Kreativität nutzen
  • Kreativität als Bestandteil der Organisationskultur entwickeln

​Methodische Zugänge zur Kreativität nutzen

Auf der praktischen Ebene kann man für Veränderungsprozesse methodische Zugänge wählen, die kreative Arbeit aktiv üben und für Entwicklungsprozesse nutzbar machen. Explizite Kreativitätstechniken dienen dazu, dies und die Prinzipien kreativen Arbeitens zu fördern. Von besonderem Nutzen ist hier das Prinzip des „lateralen“ oder „divergenten“ Denkens, welches über paradoxe Denkimpulse zu „nützlichen Umwegen“ führen kann.

Anforderungen für solche methodischen Zugängen sind:

  • Sie sind im obigen Sinne kreativ/ spielerisch, produzieren innovative Ansätze.
  • Sie betonen die Wertschätzung gegenüber den relevanten Ressourcen (insbesondere den „Human Ressources“, d.h. Pädagogen, Verwaltung, Schüler, Eltern).
  • Sie unterscheiden transparent zwischen (gesetzlichen und strukturellen) Vorgaben und Gestaltungsspielraum und balancieren diese ggf. neu aus.

Beispiele für solche methodischen Ansätze könnten sein:

» Timeline: Im Raum wird eine Zeitachse und ihre Richtung (Vergangenheit und Zukunft) mit einem langen Seil auf dem Boden definiert. Gemeinsam wird diese Linie als „Zeitreise“ abgeschritten, zuvor werden Anfangszeitpunkt, Endpunkt und Gegenwart festgelegt und markiert. Beim Fortschreiten werden von den Klienten die Besonderheiten, Vorkommnisse, Erfolge und Ressourcen erfragt. Entlang der symbolischen Zeitlinie wird gesammelt:
— wichtige Zeitpunkte, Ereignisse, Veränderungen mit Moderationskarten datieren (Jahreszahlen)
— wichtige Ressourcen wie Erfahrungen, Erfolge, Anekdotisches mit Karten festhalten
— Veränderungen oder Konstanz in Interaktionen, Bedeutungen, Ritualen verdeutlichen
Dies erlaubt einen wertschätzenden Blick Vergangenheit und Gegenwart und lässt eine Verbindung konstruieren und eine schlüssige Zukunft entwerfen.

» Zukunftsvisionen: Für eine kreative Beschreibung eines Zielbildes können fiktive Perspektiven dienen.
So kann man beispielsweise ein szenisches Rollenspiel gestalten, das ein „rundes“ Ehemaligentreffen etwa fünf Jahre nach Schulabschluss zeigt: Wer nimmt dort teil? Worüber „sollen“ die ehemaligen Schüler reden? Was sagen sie in Vorträgen auf der Bühne, was sagen sie in Nebengesprächen? Wer ist überhaupt zum Jubiläum erschienen? Was ist aus den unliebsamen Lehrern, Schülern und Schulabsolventen geworden? Diese Fragen könnten zunächst in Tandems erarbeitet und dann zum Großgruppenergebnis zusammengetragen werden.
Ein solcher spielerischer oder szenischer Zugang hilft die verinnerlichten Denkbeschränkungen (bestehend aus etablierten Denk- und Arbeitsschemata) umgehen und hilft neue Zielbeschreibungen generieren.

» Vier-Felder-Schema: Eine 2×2-Matrix als Grundlage für eine moderierte Planungssitzung kann helfen, die gegenwärtige Sachlage und eine angestrebte Situation gegenüber zu stellen, und auf dieser Grundlage die Zielmaßnahmen abzustimmen. Die Matrix enthält:
1. „Ist-Zustand“: Was ist die Sachlage, was ist Anlass für die Zielklärung? Was läuft gut, was läuft schlecht?
Wer sieht was als Problem?
2. „Soll-Zustand“: Welches Ziel soll angestrebt werden? Was wollen wir erreichen? Woran wird der gewünschte Zustand erkennbar sein?
3. „Widerstände“: Was steht derzeit der Zielerreichung im Wege? Womit bremsen wir derzeit die Zielerreichung? Was sind unsere Gründe, am Ist-Zustand festzuhalten?
4. „Maßnahmen“: Wie können wir die Widerstände überwinden? Welche konkreten Maßnahmen sind zielführend? Was müssen wir tun, um Gutes aktiv zu bewahren?
Mit dieser Perspektive lässt häufig sich der eingangs formulierte Anspruch Bewahrenswertes mit Veränderungsvorhaben verknüpfen.

» Projekttimeline: Entlang einer weiteren Timeline lässt sich eine Projektplanung für einen Veränderungsprozess visualisieren:
1. Sammlung und Überblick über Projektvorhaben, d.h. Abstimmung über Ideen mit Punktefrage
und Auswahl der Top-5 (o.ä.)
2. Zeitskala anlegen (incl. bereits terminierter Meilensteine)
3. verschiedene Projektlinien als Seile entlang Zeitskala markieren
4. erwünschte Projektergebnisse zeitlich festlegen (und mit Moderationskarten markieren)
5. Abschreiten der Zeitskala rückwärts, dabei Maßnahmen bzw. Etappen festlegen
6. wieder Blick nach vorn: Auswirkungen intern und extern als weitere Ergebnisse sammeln
7. Verantwortliche und Befürworter sammeln (Verantwortliche bekommen Hut auf)
8. weiter mit nächstem Ziel ab 4. (Rangfolge nach Gesamtrelevanz)
9. detaillierte Projektplanung in Kleingruppen, z.B. tabellarisch (incl. Rettungsmaßnahmen bei Problemen)

​Kreativität als Bestandteil der Organisationskultur entwickeln

Mit einem Begriff von Kultur als menschengemachter Teil unserer Umgebung, mit subjektiven und objektiven Aspekten gelingt ein Konstrukt Organisationskultur, das sich aus systemischer Sicht nach Klimecki & Probst als „in einem System erworbenes Wissens- und Erkenntnissystem zur Interpretation der Erfahrungen und zur Generierung von Handlungen“ auffassen lässt. „…Es ist ein Netz von Werten, Glaubensvorstellungen, kognitiver und normativer Orientierungsmuster, die das System auf geistiger Ebene zusammenhalten.“

Organisationskultur manifestiert sich in vielen Bereichen der Organisation, darunter Führungsstil und Organisationsklima, Handlungsstrukturen, verbales Verhalten, Unternehmensorganisation, Unternehmenspolitik, Corporate Identity. Sie fasst die Grundannahmen innerhalb einer Organisation zusammen, die sich nach dem Mehrebenenmodell von Ott verschiedenen Ebenen zuordnen lassen:

EbeneKulturinhalteSichtbarkeit
1AArtefakte, Kunst, Technologiesichtbar
1BVerhaltensmusterunsichtbar
2Wertorientierungen,
Überzeugungen
„espoused values“: sichtbar
„values in use“: unsichtbar
3basale Annahmennicht sichtbar
Mehrebenenmodell von Ott

Auf allen diesen Ebenen erfüllt dieses Kulturkonstrukt eine orientierende Funktion, da sie die Interaktion ordnet und mit Bedeutung versieht.

Aus systemtheoretischer Perspektive wird die Entwicklung einer Organisationskultur als hauptsächlich selbstreferenzieller Prozess aufgefasst: In jedem sozialen System bildet sich eine Kultur durch Selbstorganisation als Ergebnis der inneren und äußeren Anpassungs- und Differenzierungsprozesse. Eine gezielte Einflussnahme im Sinne einer „Setzung“ einer Organisationskultur ist möglich. Allerdings kann die bestehende Kultur in ihren „sichtbaren“ Ausprägungen (vgl. obige Tabelle) zum Gegenstand der Reflexion und dadurch zumindest auf diesen Ebenen prinzipiell verhandelbar und veränderbar werden.

Eine gezielte Veränderung der Organisationskultur kann nur eine Gemeinschaftsaufgabe der relevanten beteiligten Personen und Gruppen innerhalb einer Organisation sein. Um Schule zu einem kreativen System zu entwickeln, kann eine entsprechende Kulturentwicklung darauf abzielen, kreativem Denken und zielorientierten Entwicklungsprozessen in der Schule einen hohen Wert beizumessen und diesen in der gelebten Kultur zu verankern. Dies würde bedeuten, diesen Wert zunächst explizit zu betonen („espoused“) und die damit verbundenen Interaktionen und Ergebnisse im Schulkontext gut sichtbar hervorzuheben. Wenn dies als gemeinsames Anliegen aufgefasst und verfolgt wird, können die betonte neue Wertsetzung ein gelebter „value in use“ zu sein.

Ein Zielbild für die kreative Interaktion innerhalb einer solchen Schulkultur könnte so aussehen:

  • Denkgrenzen überwinden (dazu Umwege nutzen)
  • erfinderisch, „schöpferisch“ sein (dazu Querdenken/ laterales/ divergentes Denken nutzen)
  • spontan, emotional und unmittelbar agieren (dazu Intuition und Improvisationsfähigkeit nutzen)

Um Schule zu einem kreativen System zu entwickeln, sollte man für alle solchem Vorhaben möglichst viele beteiligte Menschen „mitnehmen“, sie für eine aktive Veränderung motivieren, auch Schülerinnen und Schüler und deren Eltern. In der Organisationsentwicklung kursiert die Daumenregel, dass man für grundlegende Vorhaben (Wandel oder Bewahren) im besten Falle die Hälfte aller Mitarbeiter*innen im Boot haben sollte. Das ist eine ehrgeizige Zielsetzung. Sie vermittelt zumindest einen Eindruck davon, dass man lebhafte Prozesse sehr schwer gegen eine mächtige Mehrheit umsetzen kann. Der Gegenwind kann sonst jeden ersten Funken von Kreativität erlöschen lassen.

​Literatur

Doppler, Klaus & Lauterburg, Christoph (1994): Change Management. Den Unternehmenswandel gestalten. Frankfurt am Main/ New York: Campus.

Fatzer, Gerhard (Hrsg.) (1993): Organisationsentwicklung für die Zukunft/ Ein Handbuch. Köln: Edition Humanistische Psychologie.

Klimecki, Rüdiger G. & Probst, Gilbert J.B. (1990): Entstehung und Entwicklung der Unternehmenskultur. In: Lattmann, Charles & Greipel, Peter (Hrsg.): Die Unternehmenskultur. Heidelberg. S. 41-65.

Luhmann, Niklas (1984): Soziale Systeme: Grundriss einer allgemeinen Theorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Metz-Göckel, Hellmut (1996): Einstellungen und Werthaltungen in Organisationen. Essen: Die Blaue Eule.

Natho, Frank (2004): Selbstlernende Teams — Konzepte und Methoden: Systemische Team- und Gruppenleitung. Dessau-Roßlau: Edition Gamus.

McKinnon, Donald W. (1962): The nature and nurture of creative talent. American Psychologist, S. 484‑495.

Preiser, Siegfried (1976): Kreativitätsforschung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

Rosenstiel, Lutz von; Molt, Walter & Rüttinger, Bruno (1995): Organisationspsychologie. Stuttgart: Kohlhammer.